Darf man von anderen als Allâh etwas erbitten?

24-8-2022 | IslamWeb

Frage:

Ich weiß, dass es ein Mangel im Îmân (Verinnerlichung der Wahrheit) ist, wenn man von jemandem anderen etwas erbittet. Denn, als einmal dem Gesandten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) der Halfter einer Kamelstute herunterfiel, bat er keinen, diesen ihm zu reichen.
Wenn ich jemanden um etwas bitte und ihm anschließend ein Geschenk oder etwas anderes gebe, so geht es mir eigentlich um eine Gegenleistung, die ich mir von ihm wünsche. Wird meine Bitte (mit Gegenleistung) wie die (oben erwähnte normale) Bitte betrachtet?

Antwort:

Der Lobpreis gebührt Allâh und möge Allâh Seinen Gesandten sowie dessen Familie und Gefährten in Ehren halten und ihnen Wohlergehen schenken!

Das Urteil über Bitten und Erbetteln bei Menschen ist unterschiedlich, je nachdem wie die Situation des Fragenden und seines Gegenübers ist. Schaich Al-Islâm Ibn Taimiyya sagte hierzu: „Ein Mensch und Anbeter (Abd), der imstande ist, etwas selbst auszuführen, darf in manchen Situationen um etwas bitten, in anderen nicht. Es ist durchaus erlaubt, dass ein Geschöpf andere (um Hilfe) bittet; in anderen Situationen aber ist das untersagt.“

Al-Ainî sagte in „Umda Al-Qârî“: „Wisse, dass sich die Hadîthe zu diesem Thema um die Unerwünschtheit des Bittens anderer (um Hilfe) drehen. Es gibt hierzu drei Ansichten: Harâm (verboten), makrûh (unerwünscht), mubâh (erlaubt). Harâm ist es, wenn jemand um Zakâ bettelt, obwohl er reich ist, oder wenn er vorgibt, arm zu sein, obwohl er es in Wirklichkeit nicht ist. Makrûh ist es, wenn jemand um etwas bittet, obwohl er es eigentlich nicht nötig hat, auch wenn er keine Armut vortäuscht. Erlaubt ist es, wenn man einen Freund oder Nahestehenden um einen Gefallen bittet. Was das Bitten in Notsituationen anbelangt, so gilt: Es ist eine Pflicht, (um etwas zu bitten), wenn es um den Erhalt des Lebens geht. Ad-Dâwûdî hat dies in den Bereich des Erlaubten eingeordnet. Etwas anzunehmen, ohne darum zu betteln und ohne dass Habgier vorliegt, daran ist nichts auszusetzen.“

An-Nawawî schreibt im Kommentar zum „Sahîh Muslim“: „Ziel dieses Kapitels und diesbezügliche Hadîthe: Über das Verbot des Bettelns sind sich die Gelehrten einig, wenn es ohne Notwendigkeit geschieht. Unsere Gefährten haben zwei Ansichten über denjenigen, der bettelt, obwohl er fähig ist, (etwas für seinen Lebensunterhalt; AdÜ) zu erwerben. Die korrektere von beiden Ansichten lautet, dass dies verboten ist, und das geht aus dem offenkundigen Wortlaut der Hadîthe hervor. Nach der zweiten Ansicht ist es erlaubt, aber unerwünscht (makrûh), wenn drei Bedingungen vorliegen: Dass man sich nicht selbst erniedrigt, dass man nicht hartnäckig bettelt und dass man den anderen nicht belästigt. Falls eine dieser Bedingungen nicht vorliegt, so ist es nach übereinstimmender Meinung verboten.“

Die Absicht, einen Ausgleich zu erhalten, von der der Fragende gesprochen hat, ändert nichts an dem Urteil des Verbots. Denn diese Person hat einen Nutzen davon, wenn es um erlaubtes (Er)bitten geht. Das Erbitten einer einfachen und kleinen Sache ist dem Menschen durchaus erlaubt, bei Dingen, welche die Menschen als geringfügig einschätzen. Dies wird nach der Gewohnheit (der jeweiligen Gesellschaft; AdÜ) bewertet. Denn bei so etwas erniedrigt sich der Mensch nicht vor dem anderen und demütigt sich nicht.
Der Großgelehrte Abdurrahmân Al-Mu‘allimî Al-Yamânî schreibt in seiner Abhandlung „Aufhebung der Zweifel über die richtige Bedeutung der Anbetung und des Göttlichen: eine Klarstellung der Bedeutung von Tauhîd und Schirk gegenüber Allâh“: „Ich habe die unterschiedlichen Arten des Bittens (von jemandem anderen außer Allâh) betrachtet und gemerkt, dass mehrere Arten zu unterscheiden sind:
Erste Art: Hier bittet der Mensch um ein Recht, das er beim anderen besitzt, so z. B. wenn er bei jemandem etwas in Form einer Schuld guthat, die er von ihm zurückfordert.
Zweite Art: Situationen, in denen gewohnheitsmäßig die Absicht einer Vergeltung unbeachtet bleibt, so z. B. wenn ein Schüler zu seinem Freund sagt: ‚Reich mir mal das Buch!‘
Dritte Art: Hier geht es um das Erbitten von etwas, worauf man kein Recht hat und wo gewohnheitsmäßig die Absicht einer Vergeltung auch nicht unbeachtet bleibt. Wenn z. B. jemand genug zum Leben hat, aber jemand anderes um etwas bittet, worauf er kein Anrecht hat: ‚Gib mir einen Dinar!‘
Zu dieser Art gehört auch, wenn der Mensch etwas von seinem Herrn, erbittet. Denn eigentlich hat er ja bei Allâh auf nichts ein Anrecht (daher soll der Mensch sich nur an Ihn wenden, weil es zu Demut u. Hingabe führt; AdÜ).
Die erste Art wird nicht mit dem Begriff Isti‘âna (Bitten um Beistand) bezeichnet, da hier weder Erniedrigung noch Demütigung impliziert sind.
Die zweite Art wird Isti‘âna genannt. Obwohl hier nicht wirklich Demütigung oder Erniedrigung vorliegen, ist eine Spur von beidem zu spüren.
Die dritte Art enthält Demütigung und Erniedrigung.“

Dementsprechend sind die Situationen, in denen das Bitten eines anderen erlaubt ist und in denen die Absicht einer Belohnung vorliegt, zwar nicht mit Erniedrigung verbunden, doch sie sind nicht optimal. Es liegt immer noch ein Anzeichen von demütigendem (Erbitten und Betteln) vor. Tugendhafter ist es (obwohl die zweitbeste Option durchaus erlaubt ist), dass man prinzipiell niemanden um etwas bittet, solange man nicht dazu gezwungen ist. Hier geht es darum, Vollkommenheit, eine höhere Moral und Frömmigkeit anzustreben. Und genau darauf verweist der Hadîth von Awf ibn Mâlik Al-Aschdschaî:
„Zur Zeit des Propheten) waren wir einmal – neun, acht oder sieben Personen mit ihm. Da sprach er zu uns: ‚Wollt ihr nicht dem Gesandten Allâhs die Treue schwören?‘ Wir hatten damals erst vor kurzem die Treue geschworen. Daher sagten wir: ‚Wir haben bereits die Treue geschworen, Gesandter Allâhs.‘ Er sagte: ‚Wollt ihr nicht dem Gesandten Allâhs die Treue schwören?‘ Wir sagten: ‚Wir haben bereits die Treue geschworen, Gesandter Allâhs.‘ Er sagte: ‚Wollt ihr nicht dem Gesandten Allâhs die Treue schwören?‘ Er (der Überlieferer) sagte: ‚Da streckten wir unsere Hände aus und sagten: ‚Wir schwören dir die Treue, Gesandter Allâhs, doch worauf?‘ Er sagte: ‚Darauf, dass ihr Allâh anbetet und Ihm nichts an die Seite stellt, auf die fünf Gebete und darauf, dass ihr Gehorsam leistet.‘ Und leise fügte er ein Wort hinzu: ‚Und bittet die Menschen um nichts!‘ Ich sah (später) einige dieser Personen: Wenn jemandem von ihnen die Peitsche herunterfiel, dann bat er niemanden, sie ihm aufzuheben“ (Muslim).

Al-Qurtubî sagte in „Al-Mufhim“: Er (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) nahm seinen Gefährten beim Treueschwur das Versprechen ab, dass sie niemanden um etwas bitten. Dies wird so verstanden, dass es sich um tugendhaften Charakter handelt. Damit entgeht man den Vorhaltungen der Menschen (weil sie einem stets ihre Hilfeleistung vorhalten; AdÜ), lernt geduldig zu sein in unangenehmen und schweren Situationen und wird in der eigenen Seele und Persönlichkeit unabhängig und würdevoll. Als er ihnen dieses Versprechen abnahm, verpflichteten sie sich zu seiner Einhaltung in allen Angelegenheiten, auch für Fälle, in denen es gar nicht um Hilfeleistung mit verbundener Dankesschuld geht. All das, um zu vermeiden, dass es wirklich zu solchen Situationen kommt.“

Ibn Allân schreibt in „Dalîl Al-Fâlihîn“: „Er (der Prophet; AdÜ) sprach dieses Wort, im Gegensatz zu den davor genannten, leise. Denn das zuerst genannte ist eine allgemeine Anweisung, aber dieser Satz ist speziell für manche.“ Ibn Rislân schreibt: „Hier geht es um das Festhalten an Allgemeinem. Ihnen (den Prophetengefährten; AdÜ) wurde das Bitten untersagt. Gemeint ist hier das Betteln um Güter bei anderen. Sie bezogen das aber auf das Allgemeine. Somit erhebt man sich über alles, was man Betteln nennen könnte, selbst wenn es nur um eine unbedeutende Sache geht.“

Abû Al-Hasan Al-Mubârakfûrî schreibt in „Mir‘a Al-Mafâtîh“: „Hierin liegt eine überdeutliche Umsetzung des Verbots zu betteln und eine abschließende Behandlung dieses Themas, auch wenn es hier nicht um verbotenes Betteln geht.“

Schaich Al-Islâm Ibn Taimiyya sagte in „Qâ‘ida Dschalîla fî At-Tawassul wa Al-Wasîla“: „Andere Geschöpfe um etwas zu bitten ist eigentlich verboten. In zwingenden Situationen ist es erlaubt. Besser ist es, darauf zu verzichten, weil man auf Allâh vertraut.“

Ibn Radschab zitiert in „Nûr Al-Iqtibâs fî Mischkâ Wasiyya An-Nabiyy“ unter Berufung auf Ibn Abbâs das Wort des Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken): „Wenn du bittest, so bitte Allâh“ und führt aus: „Der Prophet befiehlt hier, dass man sich beim Bitten nur an Allâh wenden soll, und er untersagt, andere Geschöpfe um etwas zu bitten. Wisse, dass sowohl durch die Vernunft als auch durch die Scharîa klar wird, dass nur Allâh und keine Geschöpfe gebeten werden sollen. Und dies aus mehreren Gründen: Bittet man jemanden um etwas, so ist damit die eigene Würde berührt. Es ist eine Demütigung, und dies ist nur gegenüber Allâh allein passend. Nur ihm gegenüber gebührt es, dass man Demütigung in Ibâda und Bitten zeigt. Dies ist eines der Anzeichen für aufrichtige Liebe (zum Schöpfer; AdÜ). Darunter fällt auch, dass im Bitten Allâhs eine gewaltige Form der Hingabe und Dienerschaft (Ubûdiyya) liegt. Hier zeigt man echte Bedürftigkeit und erkennt an, dass nur Er die Macht besitzt, alle Bedürfnisse zu stillen. Doch ein anderes Geschöpf um etwas zu bitten ist Unrecht. Denn jedes Geschöpf ist unfähig, sich selbst Nutzen zu bereiten und Schaden von sich abzuhalten. Wie sollte dieses Geschöpf dann dies bei anderen schaffen? Bittet man jemand anderen, so hat man ihn auf den Rang von jemandem gestellt, der bestimmt – obwohl er gar nicht dazu mächtig ist.
Auch fällt darunter, dass Allâh es liebt, wenn man Ihn um etwas bittet. Er ist zornig auf denjenigen, der Ihn nicht bittet. Er will von Seinen Anbetern, dass sie nach Ihm streben, Ihn bitten, anrufen und dass sie Bedürftigkeit nach Ihm verspüren. Er liebt diejenigen, die in ihren Bittgebeten nachdrücklich und inständig sind. Doch ein Geschöpf ist normalerweise anders. Da es selbst bedürftig und unfähig ist, mag es nicht, wenn man es um etwas bittet. Auch zählt dazu, dass Allâh der Allmächtige Seine Anbeter aufruft, ihre Bitten an Ihn zu richten. Jede Nacht ruft Er aus: ‚Gibt es jemanden, der bittet, so dass ich ihm seine Bitte gewähren? Gibt es einen Rufenden, so dass Ich ihm antworte?‘ Allâh der Erhabene sagt: ‚Und wenn dich Meine Diener nach Mir fragen, so bin Ich nahe; Ich erhöre den Ruf des Bittenden, wenn er Mich anruft‘ (Sûra 2:186). Wann immer der Anbeter bittet, so findet er Ihn hörend, nahe und Er antwortet. Nicht gibt es zwischen Ihm und dem Menschen einen Schleier oder einen Türsteher. Doch die Geschöpfe grenzen sich ab durch Hindernisse und Pförtner. Meist ist es schwierig, zu ihnen durchzudringen.“

Vom Bitten anderer Menschen Abstand zu nehmen gehört zur Suche nach Vollkommenheit und erwünschter Frömmigkeit. Der Menschen soll daher seine eigene Seele gut einschätzen und sie nicht über die passende Stufe hinaus erheben.

Ibn Radschab schreibt dazu in „Dschâmi Al-Ulûm wa Al-Hikam“: „Folgendes muss gut verstanden werden: Will man sich bei diesem Thema vorwagen und sich noch mehr von Zweifelhaftem fernhalten, so ist das nur passend, wenn der Betreffende in all seinen Zuständen bereits geradlinig geworden ist und wenn alle seine Handlungen in Bezug auf Gottesfurcht und Frömmigkeit ähnlich geworden sind. Doch wenn jemand immer noch offenkundig verbotene Taten begeht und sich dann vornimmt, in den diffizilsten Fragen zweifelhafter Angelegenheiten Frömmigkeit zu entwickeln, so wird er dies nicht ertragen können. Bei so jemandem wird dies missbilligt. Ibn Umar sagte einmal einem Iraker, der nach dem Blut einer Fliege fragte: ‚Da fragen sie mich nach dem Blut einer Fliege und haben Al-Husain getötet! Ich habe den Gesandten Allâhs (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) sagen gehört: »Diese beiden sind zwei duftende Pflanzen dieser Welt« (die beiden Prophetenenkel Hasan und Husain; AdÜ).‘ Ein Mann befragte Bischr ibn Al-Hârith über einen verheirateten Mann, dessen Mutter ihm befiehlt, sich von seiner Frau scheiden zu lassen. Da sagte er: ‚Falls er in allen anderen Angelegenheiten bereits gehorsam und wohltätig gegenüber seiner Mutter gewesen ist und nur noch eines übrig bleibt, nämlich auf Geheiß seiner Mutter gehorsam die Scheidung durchzuführen, so sollte er dies machen. Doch wenn sein (angeblicher) Gehorsam darin besteht, dass er sich von seiner Frau scheidet, und er dann kommt und seine Mutter schlägt, so darf er (eine solche Scheidung) auf keinen Fall ausführen.‘ Imâm Ahmad (Allâh erbarme sich seiner) würde über einen Mann befragt, der Hülsenfrüchte kauft und dann Bedingungen aufstellt für die Palmblätter (um sie zu befestigen). Darauf sagte Ahmad: „Was sind das für Fragen?“ Da sagte man ihm: „Es ist Ibrâhîm ibn Abû Naîm (der danach fragt).“ Ahmad sagte: „Wenn es Ibrâhîm ibn Abû Naîm ist, so muss man bejahen: Das eine ist wie das andere. Doch solche Fragen werden missbilligt bei jemandem, der in einem ganz anderen Zustand ist. Leute, die sich in Einzelheiten der Frömmigkeit vertiefen, sind in ihrem Zustand wie solche Menschen. Auch Imâm Ahmad selbst hatte sich um eine solche (tiefe) Frömmigkeit bemüht. Einmal ließ er Butter kaufen. Und als man ihm diese auf einem Blatt brachte, ließ er das Blatt zum Verkäufer zurückschicken (weil er nicht dafür bezahlt hatte; AdÜ). Imâm Ahmad pflegte sich nicht aus den Tintenfässern seiner Kollegen zu bedienen. Er brachte sein eigenes Tintenfass, das er benutzte. Ein Mann bat ihn darum, sein Tintenfass benutzen zu können und er sagte ihm: „Schreibe, denn das ist die Frömmigkeit eines Unrecht Tuenden.“ Eine andere Person bat ihn, ebenfalls dies zu tun. Da lächelte er und sagte: „Weder meine Frömmigkeit noch deine reicht dazu.“ Er meinte das in Demut. Denn er selbst übte diese Form von Frömmigkeit (und Verzicht). Er missbilligte es bei so jemandem, der nicht diese Stufe erreicht hatte und sich nachlässig bei offenkundig unerwünschtem Verhalten (makrûh) verhielt, sich dann aber permanent auf solche umstrittenen Details einließ.“

Und Allâh weiß es am besten!

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