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Gedächtnis: Ein göttlicher Segen für die Menschen – Teil 1

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Gedächtnis: Ein göttlicher Segen für die Menschen – Teil 1

Welch größerer Segen könnte einem Menschen zuteilwerden als ein Gedächtnis, das alles aufzeichnet, was er behalten möchte, und es später abruft, wenn er es braucht, um davon Nutzen zu ziehen? Ein gutes Gedächtnis ist einer der Einflussfaktoren bei der Weiterentwicklung von Individuen und Gruppen. Ohne Gedächtnis ist es schwer, Tatsachen zu erkennen und zu hinterfragen. Wer es versäumt, von den Erfahrungen früherer Menschen zu lernen und ihr Erbe zu verwerten, um darauf aufzubauen, verhält sich wie jemand, der jeden Tag von Neuem beginnt. Wissenschaften, Industrien und Kulturen würden sich permanent in der Anfangsphase befinden, die von einer chaotischen Dynamik bestimmt wird, da sich jeder Mensch für eine zufällige Wahl seiner Vorlieben entscheiden würde.

Das Gedächtnis ist eine Fähigkeit des Gehirns, mit der Informationen und Eindrücke von vergangenen Ereignissen dauerhaft gespeichert werden. Laut dem Philosophen Michel de Montaigne (gest. 1592) ist das Gedächtnis „Der Speicher des Wissens und die Aufbewahrung der Weisheit.“ Der Schriftsteller François de La Rochefoucauld (gest. 1680) sagte: „Alle Menschen beklagen sich über (die Schwäche ihres) Gedächtnisses, aber keiner hat sich jemals über (die Schwäche seines) Verstandes beklagt!“ Ein anderer Denker sagte: „Intelligenz ohne Gedächtnis ist wie ein Sieb, das kaum zurückhält, was man hineingibt.“ Ein anderer sagte: „Das Gedächtnis ist ein Mittel, um Vollkommenheit zu erreichen; ohne Gedächtnis kann ein Mensch nichts nachbilden und weiterentwickeln.“ Der Dichter Pierre Corneille sagte: „Wer lügt, muss ein gutes Gedächtnis haben.“ Dies ähnelt einem arabischen Sprichwort: „Wer oft lügt, braucht ein gutes Gedächtnis (um den Überblick über seine Lügen zu behalten).“

Das Gedächtnis spielt eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des menschlichen Denkens, ohne das alle Bemühungen vergeblich und fruchtlos wären, denn es ist ein Speicher für die Aufbewahrung entstandener Ideen und das beste Mittel zur Bildung neuer Ideen. Die Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Gedächtnisses sind nach wie vor ein Rätsel. Forscher haben das Wesen des Gedächtnisses noch nicht vollständig verstanden. Bisher hat man herausgefunden, dass das Gedächtnis durch Verbesserung der Aufmerksamkeit und geistige Übung gefördert wird; Luxus erzeugt hingegen Trägheit, die wiederum das Gedächtnis untergräbt oder sogar tötet.

Keine andere Gemeinschaft hat der Dokumentation und Bewahrung ihrer Religion, Sprache und Überlieferungen so viel Sorgfalt und Aufmerksamkeit gewidmet wie die muslimische Umma. Die Berichte über die guten Auswendiglerner des Qurâns aus allen Teilen der muslimischen Welt über die Jahrhunderte hinweg sind kein Geheimnis. Einige Aspekte dieser Sorgfalt und Aufmerksamkeit sind in den heutigen muslimischen Gesellschaften immer noch spürbar. Was die Hadîth-Wissenschaften betrifft, so haben Muslime der Zusammenstellung der Überlieferungen besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dabei wurden Überlieferungen ermittelt, die dem Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) authentisch zugeschrieben werden konnten. Außerdem wurden erfundene Überlieferungen gefiltert und von den nicht vollständig authentifizierten auseinandergehalten. Ihre lobenswerten Bemühungen in dieser Hinsicht sind für jeden wahrnehmbar, der die Hadîth-Literatur liest und studiert.

In den frühen Jahrhunderten des Islâms wurde das Wissen nicht einfach als Erbe an die nachfolgenden Generationen weitergegeben, noch war es an Äußerlichkeiten gebunden. Es gab auch keinen Raum für Vetternwirtschaft oder Fürsprache in der Gelehrtengemeinschaft. Vielmehr basierte die Anerkennung im Bereich der Gelehrten ausschließlich auf Verdienst und harter Arbeit und dem Talent der ernsthaft nach Wissen Suchenden. Und dies wurde durch festgelegte Normen und Regeln bestimmt. Daher wurde einem Hadîth-Gelehrten der Titel „Hâfidh“ (Auswendiglerner) erst verliehen, nachdem er Tausende von Hadîthen zusammen mit ihren Überlieferungsketten memorisiert hatte.

Der Titel „Musnid“ (Überlieferer) wird einem Hadîth-Überlieferer verliehen, der den Matn (Hadîth-Text) zusammen mit dem Isnâd (Überlieferungskette) weitergibt, unabhängig davon, ob er Wissen über den entsprechenden Hadîth hatte oder ihn nur weitergab. Der Titel „Muhaddith“ (Hadîth-Experte), ein höherer Titel, wird jemandem verliehen, der tiefergehendes Wissen über Hadîth-Wissenschaft besitzt. Ein „Âlim“ (Gelehrter) ist jemand, der sowohl den Matn als auch den Isnâd des Hadîth kennt. Die rechtschaffenen Vorfahren verwendeten jedoch beide Titel „Muhaddith“ und „Hâfidh“ gleichbedeutend.

Ein Muhaddith ist ein Experte des Hadîth, der Wissen über die Asânîd (Überliefererketten), die Ilal (verborgene Fehler), die Namen der Überlieferer und die Länge der Überlieferungskette hat, welche einen Überliefer mit dem Propheten (möge Allâh ihn in Ehren halten und ihm Wohlergehen schenken) verbindet. Außerdem kann ein Muhaddith eine Vielzahl von Hadîth-Texten auswendig. Ilal (pl. von Illa) sind subtile Fehler, die von versierten Hadîth-Gelehrten und Kritikern identifiziert werden. Dadurch wird der Hadîth als nicht authentisch eingestuft, obwohl er oberflächlich betrachtet authentisch erscheinen mag. Solch ein Gelehrter muss auch die sechs authentischen Hadîth-Sammlungen – Sahîh Al-Buchârî, Sahîh Muslim, Sunan Abû Dâwûd, Sunan At-Tirmidhî, Sunan An-Nasâî, Sunan Ibn Mâdscha – sowie Musnad Ahmad ibn Hanbal, Sunan Al-Baihaqî und Mu‘dscham At-Tabarânî und tausend Teile (Adschzâ) von Hadîth-Sammlungen (z. B. Hadîth-Sammlungen zu bestimmten Themen oder von einem einzelnen Überlieferer überlieferte Hadîthe) studiert haben. Dies ist das Mindeste an Wissen, dessen Erwerb jemanden zu einem Hadîth-Gelehrten qualifiziert. Wenn er dazu das Studium der Bücher über die Tabaqât (Pl. von Tabaqa, d. h. Ebene oder Stufe der Überlieferer) hinzufügt, bei hochrangigen Hadîth-Gelehrten studiert, die Ilal untersucht, sich mit den Sterbeberichten der Überlieferer und Hadîth-Gelehrten und Masânîd (Pl. von Musnad; Sammlungen von Hadîthen, die nach dem Namen des Überlieferers geordnet sind) beschäftigt, erreicht er die erste Stufe und hat sich für den Titel „Muhaddith“ qualifiziert. Die rechtschaffenen Vorfahren widmeten sich dem Hören der Hadîth-Überlieferungen, dem Studium bei Hadîth-Lehrern, dem Reisen auf der Suche nach Wissen, dem Deuten und Auswendiglernen des erworbenen Wissens und dem Handeln danach.

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